Soziale Medien & mentale Gesundheit?
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Gibt es dazu mehr zu wissen als nur die Gefahren, die durch exzessiven Konsum entstehen können?
Soziale Medien werden vor allem im Kontext von exzessivem Konsum und etwaigen Schäden für die psychische Gesundheit untersucht. Aber sind soziale Medien auch ein Ort, um sich über mentale Gesundheit auszutauschen? Ja, haben einige Studien herausgefunden, die soziale Medien als einen Raum der Gesundheitsinformation und -kommunikation identifizieren. Wir haben hier ein paar Studien zusammengefasst, die die Kommunikation in sozialen Medien über mentale Gesundheit untersucht haben.
Menschen nutzen soziale Medien, um Informationen über psychische Erkrankungen zu suchen und sich mit anderen Menschen mit ähnlichen Erkrankungen auszutauschen und zu vernetzen. Das ermöglicht ihnen, darüber zu kommunizieren, ohne ihr Haus zu verlassen oder ihre Identität preiszugeben (Coppersmith et al. 2015; Naslund et al. 2020), was für Menschen, die z.B. unter Angstzuständen leiden, eine Sicherheit bedeuten kann. Menschen teilen in den sozialen Medien persönliche Erfahrungen, Meinungen, Gedanken und andere Informationen zur psychischen Gesundheit, die sonst oft zu einer Stigmatisierung führen, wenn sie von Angesicht zu Angesicht kommuniziert werden (Luo & Hancock, 2020). Berry et al. (2017) weisen darauf hin, dass soziale Medien eine Infrastruktur und ein Umfeld bieten, in dem es üblich ist, Meinungen zu Themen zu äußern, die in der Außenwelt möglicherweise nur schwer zu verhandeln und auszudrücken wären. Narslund et al. (2016) fanden heraus, dass Menschen von der Online-Interaktion profitieren, weil sie sich sozial verbunden fühlen, indem sie persönliche (Krankheits-)Geschichten und Strategien zur Bewältigung psychischer Erkrankungen austauschen. Sie suchen Rat, lernen voneinander und unterstützen sich gegenseitig und erfahren dadurch Erleichterung durch Wohlwollen, Anerkennung und Wertschätzung von Seiten der Community (Narslund et al. 2020). In dieser Hinsicht ähneln soziale Online-Netzwerke den traditionellen Freundes- und Familiennetzwerken, die sich als wichtige Vermittler von Handlungskompetenz erweisen (Wray 2004).
Eine Vielzahl von Studien untersucht die Nutzung sozialer Medien im Zusammenhang mit Angststörungen und konzentriert sich dabei auf deren Auswirkungen auf das (psychische) Wohlbefinden der Betroffenen (z. B. Coyne et al. 2020; Keles et al. 2019; Shensa et al. 2018; Alikis et al. 2017; Primack et al. 2017). Die Studien zeigen die negativen Auswirkungen einer exzessiven Nutzung von Technologien wie Smartphones und sozialen Medien auf die psychische Gesundheit von Menschen (Coyne et al. 2020), liefern aber auch Belege dafür, dass die Nutzung sozialer Medien zur Kommunikation über psychische Gesundheitsthemen positive Auswirkungen auf Patient*innen haben kann (Russo 2020; Berry et al. 2017; Lachmar et al. 2017; Narslund et al. 2016).
Mehrere Studien untersuchen Tweets, die mit Hashtags zum Thema psychische Gesundheit versehen sind. Unabhängig von den spezifischen Krankheitsbildern, auf die sich die Studien konzentrieren, weisen alle darauf hin, dass soziale Medien von Menschen genutzt werden, um Inhalte über psychische Gesundheitsprobleme zu teilen, Gedanken und Gefühle auszudrücken und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen. Betroffene Menschen können hier ihre Themen positionieren, um Bewusstsein über mentale Gesundheit zu schaffen und Stigmata im Zusammenhang mit psychischer Krankheit zu widerlegen. Durch die Nutzung sozialer Medien fühlen sich betroffene Menschen verbunden und gestärkt (Luo & Hampton 2017).
Lachmar et al. (2017) untersuchten den Hashtag #MyDepressionLooksLike, um zu verstehen, wie Menschen auf Twitter über Depressionen sprechen. Die Ergebnisse lassen erkennen, dass depressionsbezogene Themen, darunter dysfunktionale Gedanken, Herausforderungen im Alltag mit der Krankheit, Traurigkeit und Suizidgedanken in den Tweets verhandelt wurden. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass Menschen sich austauschen und Rat suchen, um ihre psychische Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Neben der Suche nach Linderung der Symptome durch Selbstauskunft neigen die Menschen dazu, sich über alternative Heilmethoden auszutauschen und zu informieren. Dies deutet darauf hin, dass die Nutzung sozialer Medien als eigenständiges Hilfsmittel eingesetzt wird, unabhängig von der Art der Kommunikation, die stattfindet. Dennoch gehen die Forschenden davon aus, dass Menschen vom Teilen von Inhalten zur psychischen Gesundheit auf Twitter profitieren, da der Austausch von Erfahrungen und die Kommunikation mit anderen zu einer (vorübergehenden) Verbesserung der Situation führen kann. Andalibi et al. (2017) fanden heraus, dass Menschen Instagram nutzen, um negative Emotionen oder stigmatisierte Facetten ihres psychischen Wohlbefindens im Kontext von #depression offenzulegen. Dabei fanden die Forscher*innen heraus, dass das Teilen von Bildern im Zusammenhang mit den auf Depression bezogenen Bildunterschriften und Texten, das Kommunizieren schwieriger Emotionen für die Nutzer*innen erleichtert.
Russo (2020) wertete 1.318 Tweets aus, die mit #ThisIsWhatAnxietyFeelsLike getaggt waren, um Informationen über die spezifischen Geschichten zu erhalten, die Menschen über alltägliche Erfahrungen mit Angst erzählen. Die Ergebnisse zeigen, wie betroffene Menschen sich selbst im Verhältnis zu anderen sehen. Zu den Themen gehören die Besorgnis über und die Vermeidung von Verhaltensweisen, die zu sozialer Interaktion und Beziehungen führen könnten. Die Tweets zeigen, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Zeit mit Partner*innen und Familienmitgliedern zu verbringen oder mit ihnen zu kommunizieren, und dass sie sich gestresst und erschöpft fühlen, wenn andere hohe Erwartungen an sie stellen, die sie nicht erfüllen können. Allerdings twittern die Menschen auch häufig, dass die soziale Unterstützung durch andere für die Bewältigung von Ängsten hilfreich ist. Die Forschung bestätigt, dass soziale Unterstützung eine zentrale Rolle bei der Veränderung dysfunktionaler Symptome einnehmen kann (Luo & Hancock 2019). Soziale Medien haben das Potenzial, das Engagement und die Eigenverantwortung von Betroffenen zu steigern und den Aufbau von Communities zu unterstützen (Househ et al. 2014), und bieten damit eine fruchtbare Grundlage für die (Selbst-)Entwicklung von Handlungskompetenz.
Grundsätzlich ist dennoch zu sagen, dass die Interaktion in sozialen Medien für unterschiedliche Menschen unterschiedlich nützlich oder hilfreich ist. Sie ersetzt natürlich nicht eine professionelle Behandlung der Krankheit.
Literatur
Alkis, Yunus, Zafer Kadirhan, and Mustafa Sat. 2017. “Development and Validation of Social Anxiety Scale for Social Media Users”. Computers in Human Behavior 72 (7): 296–303. https://doi.org/10.1016/j.chb.2017.03.011
Andalibi, Nazanin, Pinar Ozturk, and Andrea Forte. 2015. “Depression-related Imagery on Instagram”. In Proceedings of the 18th ACM Conference Companion on Computer Supported Cooperative Work and Social Computing (CSCW’15 Companion), Vancouver BC Canada, February 2015, 231–234. New York, USA: ACM Press. https://doi.org/10.1145/2685553.2699014
Berry, Natalie, Fiona Lobban, Maksim Belousov, Richard Emsley, Goran Nenadic, and Sandra Bucci. 2017. “#WhyWeTweetMH. Understanding why people use twitter to discuss mental health problems”. Journal of Medical Internet Research 19 (4): e107, 1–13. https://doi.org/10.2196/jmir.6173
Coppersmith, Glen, Mark Dredz, Craig Harman, and Kristy Hollingshead. 2015. “From ADHD to SAD. Analyzing the language of mental health on Twitter through self-reported diagnoses”. In Proceedings 2nd Workshop on Computational Linguistics and Clinical Psychology. From Linguistic Signal to Clinical Reality, Denver Colorado, June 2015, Association for Computational Linguistics, 1–10. https://doi.org/10.3115/v1/W15-1201
Coyne, Sarah M., Adam A Rogers., Jessica D. Zurcher, Laura Stockdale, and McCall Booth. 2020. “Does time spent using social media impact mental health? An eight year longitudinal study”. Computers in Human Behavior. 104 (3): 106–160. https://doi.org/10.1016/j.chb.2019.106160
Househ, Mowafa, Elisabeth Borycki, Andre Kushniruk. (2014). Empowering patients through social media: The benefits and challenges. Health Informatics Journal 20 (1): 50 –58. https://doi.org.10.1177/1460458213476969
Keles, Betul, Niall McCrae, and Annmarie Grealish. 2020. “A systematic review: the influence of social media on depression, anxiety and psychological distress in adolescents”. International Journal of Adolescence and Youth. 25 (1): 79–93. https://doi.org/10.1080/02673843.2019.1590851
Lachmar, Megan, Andrea Wittenborn, Katherine Bogen, and Heather McCauley. 2017. “#MyDepressionLooksLike: Examining Public Discourse About Depression on Twitter”. JMIR Mental Health. 4 (4): e43, 1–11. https://doi.org/10.2196/mental.8141
Luo, Mufan, and Jeffrey T. Hancok. 2020. “Self-disclosure and social media: motivations, mechanisms and psychological well-being”. Current Opinion in Psychology. 31 (2): 110–115. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2019.08.019
Narslund, John A., Ameya Bondre, John Torous, and Kelly A. Aschbrenner. 2020. “Social Media and Mental Health: Benefits, Risks, and Opportunities for Research and Practice”. Journal of Technology in Behavioral Science. 2020 (5): 245–257. https://doi.org/10.1007/s41347-020-00134-x
Naslund, John A., Kelly A. Aschbrenner, Lisa A. Marsch, and Stephen J. Bartels. 2016. “The future of mental health care: Peer-to-peer support and social media”. Epidemiology & Psychiatric Sciences. 25 (2): 113–122. https://doi.org/10.1017/S2045796015001067
Primack, Brian A., Ariel Shensa, César G. Escobar-Viera, Erica L. Barrett, Jaime E. Sidani, Jason B. Colditz, and A. Everette James. 2017. “Use of multiple social media platforms and symptoms of depression and anxiety: A nationally-representative study among U.S. young adults”. Computers in Human Behavior, 69 (4): 1–9. https://doi.org/10.1016/j.chb.2016.11.013
Prizant-Passal, Shiri, Tomer Shechner, and Idan Aderka. 2016. “Social anxiety and internet use–A meta-analysis: What do we know? What are we missing?”. Computers in Human Behavior. 62 (9): 221–229. https://doi.org/10.1016/j.chb.2016.04.003
Russo, Rachel B. 2020. “#ThisIsWhatAnxietyFeelsLike: Twitter Users’ Narratives About the Interpersonal Effects of Anxiety”. MA thesis, Utah State University. Accessed September 1, 2020. https://digitalcommons.usu.edu/etd/7780.
Shensa, Ariel, Jaime Sidani, Mary Amanda Dew, César Escobar-Viera, and Brian Primack. 2018. “Social Media Use and Depression and Anxiety Symptoms: A Cluster Analysis”. American Journal of Health Behavior. 42 (2): 116–128. https://doi.org/10.5993/AJHB.42.2.11
Wray, Sharon. 2004. “What Constitutes Agency and Empowerment for Women in Later Life?” The Sociological Review. 52(1): 22–38. https://doi.org/10.1111/j.1467-954X.2004.00440.x
Forschungsvorhaben
Wofür steht eigentlich DISA und was machen wir in dem Projekt? All das erfährst du in einem kurzen Video
„Hopohopo“ – eine interaktive Geschichte in Virtual Reality über soziale Angst
Die Virtual Reality Erfahrung „Hopohopo“ lädt dazu ein, eine von sozialen Ängsten betroffene Person in ihrem Alltag zu begleiten und damit einen Eindruck von den Herausforderungen zu erhalten, die Menschen bewältigen müssen, die unter sozialer Phobie leiden.
Welche Art der Unterstützung wünschen sich Menschen mit sozialer Angst?
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse unserer Umfrage mit 21 Teilnehmenden zur Orientierung für alle, die einen nahestehenden Menschen mit sozialen Ängsten unterstützen möchten.
DISA wird Projekt des Monats!
Im April wurde das Projekt DISA aus dem BMBF-Programm "Forschung an Fachhochulen" als Projekt des Monats ausgewählt! Wir freuen uns sehr.
partizipative Workshops
Um die Bedürfnisse, Ideen und Visionen betroffener Menschen im Kontext der selbstbestimmten Bewältigung von Angst besser verstehen zu können, haben wir ein partizipatives Workshop Konzept entwickelt.
Rethinking Tech Ressources for Mental Health
Dieses Semesterprojekt an der FH Potsdam untersucht technische Möglichkeiten im Bereich VR, AR sowie Wearable Technologie für die Förderung mentaler Gesundheit.
UNWOHL
In dem zweiwöchigen Projektwochen-Kurs der Fachhochschule Potsdam beschäftigten sich Studierende mit dem Thema „Unwohlsein“.
Empathievermögen 2.0 – vom Versuch unsere Spiegelneuronen upzudaten
Ein Blogbeitrag zum Thema Empathie und virtuelle Realität
Kleines 1×1 der Psychotherapieansätze bei Sozialer Phobie
Ein Blogbeitrag zum Thema Psychotherapieansätze bei Sozialer Phobie
Virtual Reality Usability Measurement Inventory (ViRUMI)
Um Anwendbarkeit und wahrgenommenen Nutzen von Virtual Reality Anwendungen zu untersuchen, wurde im Projekt DISA der ViRUMI Fragebogen entwickelt.
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