Empathievermögen 2.0 – vom Versuch unsere Spiegelneuronen upzudaten
Rahel Maué
Rahel Maué
Neulich hatte meine Smartwatch eine kleine Sinn- und Zweckkrise. Sie fragte mich alle 5 Minuten, ob ich ein Ruder-Training starten wolle. Anstatt das sportwütige Gerät mit den Worten „Mach doch selbst ein Ruder-Training!“ in die Havel zu schleudern, entschied ich mich für die friedvolle Variante: ein Systemupdate. Besten Dank an die Programmierenden, läuft besser als zuvor.
Als Psychologin könnte ich auch manchmal so ein Systemupdate gebrauchen, allem voran für mein Empathievermögen. Wenn meine Spiegelneuronen mal wieder Siesta feiern und es mir einfach nicht gelingen will, die Wahrnehmung meines Gegenübers nachzuvollziehen. Knopf drücken. Warten. „Ach jetzt kann ich endlich verstehen, warum Sie Ihre Mutter hassen!“ Es wäre so einfach. Aber kann das gehen – Gedankenruck auf Knopfdruck? Scheinbar ja, wenn es der Knopf einer VR-Brille ist. Zumindest scheint es so, wenn wir uns einmal einige Studien zu Empathie vermittelnden Virtual-Reality-Anwendungen zu technikverliebtem Gemüte führen.
Die Idee, VR-Brillen und virtuelle Umgebungen für die Vermittlung von Empathie zu nutzen, ist weder neu noch unumstritten. Bereits im Jahr 2010 setzte ein Forschungsteam der University of North Carolina VR-Technologie ein, um nichtbetroffene Personen für das Leben mit Schizophrenie zu sensibilisieren.¹ In der entsprechenden Studie wurde ein 4-Gruppen-Design mit 3 Versuchsgruppen und einer Kontrollgruppe umgesetzt. In der Versuchsgruppe „VR-Simulation“ durchlebten die Teilnehmenden folgendes Szenario: Aus der Ego-Perspektive wird in einer Apotheke ein Medikament abgeholt. Während das Rezept für das Medikament bearbeitet wird, kommt es zu verschiedensten visuellen und akustischen Halluzinationen. Beispielsweise rufen alarmierende Stimmen: „Jetzt holt sie gleich das Gift!“. Auch das Label auf dem Medikament lässt in einem kurzen Aufflackern das Wort „Gift“ erkennen. Die anderen Menschen in der Apotheke verhalten sich hämisch oder boshaft. In der anschließenden Fragebogenerhebung zeigte sich, dass Teilnehmende der Versuchsgruppe „VR-Simulation“ nach der Erfahrung signifikant mehr Empathie gegenüber Personen mit Schizophrenie empfanden, als die Versuchspersonen in der Kontrollgruppe.
Ein Jahrzehnt später mehren sich die Studien zu VR und Empathievermittlung. Die rosa-rote Brille ist out, immersive Erfahrungen sind in. Und es gibt noch so viel zu lernen! Wissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin stellten bei ihrer Studie aus dem Jahr 2021 beispielsweise fest, dass es bei VR-Anwendungen auch auf die Einstellung zu dargestellten Personen ankommt.² Die Forschungsgruppe wählte ein 3-Gruppen-Design und einen Ansatz, bei dem sich die Teilnehmenden der beiden Versuchsbedingungen einem jungen Mann gegenübersahen, der auf einer Bank sitzt. Der Mann erzählt in einem fiktiven Monolog ausführlich von seinem Leben mit der Krankheit Schizophrenie. In der ersten Versuchsbedingungen begegneten die Teilnehmenden dem jungen Mann im virtuellen Raum. Die Teilnehmenden der zweiten Versuchsbedingung bekamen denselben Mann zu sehen – allerdings über ein reguläres Video-Format. Überraschenderweise lieferten die Daten im Anschluss an die VR-Erfahrung keinen Hinweis auf eine Empathiezunahme der Teilnehmenden gegenüber Menschen mit Schizophrenie. Im Gegenteil: Sie zeigten nach der Anwendung mehr Angst, weniger Empathie und weniger Wohlwollen gegenüber von Schizophrenie betroffenen Menschen als die Teilnehmenden der Video-Versuchsgruppe. Es stellte sich heraus, dass viele Teilnehmende den jungen Mann als unsympathisch wahrgenommen hatten, was in der VR-Bedingung scheinbar von Bedeutung war. Als die Forschenden nur Teilnehmende in die Datenanalyse inkludierten, denen der Mann sympathisch gewesen war, stiegen auch die Werte für Empathie und Wohlwollen wie erwartet.
Menschen mit Schizophrenie sind besonders stark von Vorurteilen betroffen, aber auch andere psychische Erkrankungen bringen Stigmatisierung mit sich. Ein Forschungsteam der Chinese University in Hong Kong wies 2021 den Nutzen einer VR-Simulation nach, um nichtbetroffene Personen für die gesellschaftlichen Folgen von Angststörungen und Depressionen zu sensibilisieren.³ Auch dieses Team hat sich etwas Innovatives ausgedacht: Die Teilnehmenden der VR-Versuchsbedingung erlebten (mehr oder weniger) am eigenen Leib die herausfordernden Reaktionen der Mitmenschen, mit denen man sich als psychisch erkrankte Person konfrontiert sieht. Sie schlüpften in die Rolle der fiktiven Person „Yan“ und erlebten aus ihrer Sicht, welche Vorurteile und Erwartungen, die Kolleg*innen und Familienangehörige an eine ängstlich-depressive Person herantragen. Im Anschluss wurde bei den Teilnehmenden der VR-Bedingung eine signifikante Verringerung stigmatisierender Einstellungen gegenüber ängstlich-depressiven Menschen festgestellt.
Mit psychisch erkrankten Menschen mitfühlen –ist das denn überhaupt Aufgabe der Gesellschaft? Das kann man auch bejahen, ohne ein Dalai Lama-Zitat in der Pipeline zu haben. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben mit einer ganzen Reihe von Vorurteilen zu kämpfen, aufgrund derer sich ihre Gesundheit weiterhin verschlechtert. Oftmals wird aus Angst vor Stigmatisierung lange oder sogar gänzlich auf eine Behandlung verzichtet. Während der Kollege mit dem Oberschenkelhalsbruch Gips-Unterschriften sammelt, legt die psychisch erkrankte Person ein Sammelsurium an Entwertungen an: „Du musst es einfach nur wollen.“ Oder auch: „Das ist doch eine Frage der Selbstdisziplin, raff dich mal auf!“ Oder der Klassiker: „Du musst halt öfter mal was Schönes machen! Lach mal wieder!“
Die Message ist immer die Gleiche: „Es liegt an dir. Du hast eigentlich keine richtige Krankheit. Du bist nicht richtig.“ Die böse Überraschung im Kleingedruckten: Scham- und Schuldgefühle bei den Betroffenen. Es ist also kaum verwunderlich, dass die Bekämpfung der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation hohe Priorität haben sollte.
Schöne neue virtuelle Welt – aber können wir unser Empathievermögen nicht auch analog aufpolieren? Müssen in deutschen Wohnzimmern reihenweise Saint-Exupéry-Wandtattoos heruntergerissen werden und ersetzt werden durch: „Man sieht nur mit der VR Brille gut, das Wesentliche ist für die Augen sonst unsichtbar.“? So weit müssen wir vielleicht nicht gehen. Das altbewährte Mitfühlen jenseits von VR und „Metaverse“ ist immer noch Königsklasse. Authentisch miteinander in Kontakt gehen und einander zuhören bleibt bis auf Weiteres das sicherste Update für unsere grauen Zellen. Wenn ein realer Austausch mit bestimmten Personengruppen nicht machbar ist, darf es aber vielleicht auch die VR-Brille sein.
Oder vielleicht auch nicht? Denn inwiefern es ethisch vertretbar ist, VR Technologien zur Manipulation der Empathiebereitschaft einzusetzen, wird bereits zunehmend emotional diskutiert. So gibt es auch Stimmen aus der Wissenschaft, die solch ein Vorgehen als “multisensorisches hijacking” bezeichnen und betonen, dass die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse dringend eingehender Untersuchung bedürfen.⁴ Andere Expert*innen lehnen jede Form von Empathie evozierenden VR-Erfahrungen als grundlegend manipulativ und unethisch ab.⁵
Es lohnt sich aber zweifelsohne, das psychoedukative Potential von VR-Anwendungen fest im Blick zu halten. Im DISA-Projekt tun wir das, indem wir gemeinsam mit dem Selbsthilfeverband für Soziale Phobie (VSSP) an einer VR-App arbeiten, die Wissen über soziale Angsterkrankungen vermitteln soll. Auch wir haben einen Ansatz gewählt, der Anwender*innen ermöglichen einen kleinen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen mit sozialer Phobie gewähren soll. Ob es im Zuge des Wissenszuwachs zu einer Empathiezunahme kommt – wir können es noch nicht sagen. Wir halten euch aber auf dem Laufenden!
Fotos: by Barbara Zandoval on Unsplash
Literatur:
¹Kalyanaraman, S., Penn, D. L., Ivory, J. D. & Judge, A. (2010). The Virtual Doppelganger. Effects of a Virtual Reality Simulator on Perceptions of Schizophrenia. The Journal of Nervous and Mental Disease, 198(6), 437-443.
²Stelzmann, D., Toth, R. & Schieferdecker, D. (2021). Can Intergroup Contact in Virtual Reality Reduce Stigmatization Against People with Schizophrenia?. Journal of Clinical Medicine, 10(13). https://doi.org/10.3390/jcm10132961
³Yuen, A. S. Y., & Mak, W. W. S. (2021).The Effects of Immersive Virtual Reality in Reducing Public Stigma of Mental Illness in the University Population of Hong Kong: Randomized Controlled Trial. Journal of Medical Internet Research, 23(7), 1-17.
⁴Moroz, M. & Krol, K. (2018. März). VR and Empathy: The Bad, the Good and the Paradoxical [Konferenzbeitrag]. DOI: 10.1109/VAR4GOOD.2018.8576883
⁵Ramirez, E.J., Elliott, M. & Milam, P.-E. (2021). What it’s like to be a _____: why it’s (often) unethical to use VR as an empathy nudging tool. . Ethics and Information Technology.
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